Source: Die Zeit; Einbinden, nicht aufnehmen; Dec
11th, 2002 - Es wird Zeit, dass die europäischen Staats- und
Regierungschefs, wenn sie sich heute abermals in Kopenhagen dem türkischen
Thema zuwenden, sich über ihre strategischen Interessen klaren Wein
einschenken - von Helmut Schmidt
continued heute in der Türkei regierende islamistische
Partei, mithilfe der EU das Militär zurückdrängen zu können. Die von Chirac
und Schröder vorgetragenen Fristsetzungen könnten bereits vor dem Jahre
2005 eine dramatische Auseinandersetzung auslösen. Jedenfalls ist der
Ausgang des Streites zwischen dem heutigen Re-Islamisierungsprozess und dem
von der EU verlangten Demokratisierungsprozess ungewiss. Fundamentalismus
ist denkbar geworden.
Was sind Deutschlands Interessen? Zum Ersten sind
wir dringend am Wohlergehen und an der Stabilität des türkischen Nachbarn
interessiert. Deshalb habe ich zum Beispiel in den siebziger Jahren als
Regierungschef eine internationale Finanzhilfe zugunsten Ankaras initiiert.
Deshalb sollten wir heute eine Wiederbelebung und Ausweitung des
Assoziationsabkommens mit der EU und eine weit reichende wirtschaftliche
Kooperation betreiben; denn der türkische Lebensstandard pro Kopf liegt bei
nur einem Fünftel des EU-Durchschnitts.
Zum anderen gibt es zwingende Gründe, eine
Vollmitgliedschaft in der EU zu vermeiden. Sie würde Freizügigkeit für alle
türkischen Staatsbürger bedeuten und damit die dringend gebotene
Integration der bei uns lebenden Türken und Kurden aussichtslos werden lassen.
Sie würde zugleich die Tür öffnen für eine ähnlich plausible
Vollmitgliedschaft etwa anderer muslimischer Staaten in Afrika und Nahost.
Sie würde eine außenpolitische Handlungsfähigkeit der EU unmöglich machen.
Im wahrscheinlichen Ergebnis würde die politische
Union zu einer Freihandelszone verkümmern. Zwar hätten viele Engländer und
Amerikaner gegen ein solches Ergebnis nichts einzuwenden. Die Deutschen
aber und ebenso die Franzosen müssen wissen: Es liegt in unserem vitalen
nationalen Interesse, die Selbstbehauptung der Europäischen Union zu
erreichen; denn als einzelne Staaten werden wir den politischen und
demografischen, den ökonomischen und ökologischen Herausforderungen des 21.
Jahrhunderts nicht standhalten können.
Die 15 europäischen Regierungschefs, die sich
heute in Kopenhagen, unter abermals massivem amerikanischen Druck, an die
Adresse der Türkei äußern werden, müssen daran erinnert werden, dass es
seit 1963 eine einzige rechtliche Verpflichtung für sie gibt, nämlich unter
bestimmten Voraussetzungen „… die Möglichkeit eines Beitritts der Türkei
zur Europäischen Wirtschafts-Gemeinschaft zu prüfen“. Leider ist zu
erwarten, dass der Europäische Rat sich gegenüber der Türkei abermals
zweideutig verhalten wird. Dagegen ist es aber an der Zeit, den Ausbau der
wirtschaftlichen Beziehungen ernsthaft zu betreiben. Top