Source: Die Zeit; Einbinden, nicht aufnehmen; Dec
11th, 2002 - Es wird Zeit, dass die europäischen Staats- und
Regierungschefs, wenn sie sich heute abermals in Kopenhagen dem türkischen
Thema zuwenden, sich über ihre strategischen Interessen klaren Wein
einschenken - von Helmut Schmidt
Kaum einer der heutigen Europäer hat jemals in
seiner Schule oder Kirche oder Synagoge gelernt, dass vor einem Jahrtausend
die islamische Wissenschaft derjenigen der Europäer weit überlegen gewesen
ist - dass zum Beispiel sie es war, die uns große Teile unseres Wissens von
den Schriften der klassischen Griechen vermittelt hat; kaum einer weiß
überhaupt etwas von der Geschichte und vom Inhalt des Islam, nicht einmal
die gemeinsamen Wurzeln in Abraham oder Moses sind uns bewusst. Wohl aber
sind die meisten Europäer seit dem Mittelalter - dank der Kirche und den
Kreuzzügen - in feindlicher Abneigung gegenüber dem Islam aufgewachsen. Und
umgekehrt: Auch von islamischer Seite ist die Mahnung zu religiöser
Toleranz eine ganz große Seltenheit.
Im Islam fehlen die für die europäische Kultur
entscheidenden Entwicklungen der Renaissance, der Aufklärung und der
Trennung zwischen geistlicher und politischer Autorität. Der Islam hat auch
deshalb - trotz 500 Jahren osmanischer Expansion - in Europa nicht Fuß
fassen können; Albanien, Bosnien und das Kosovo sind Ausnahmen geblieben,
dazu die Stadt Istanbul. Jedoch leben seit einigen Jahrzehnten in Europa
viele Muslime - in Frankreich und Deutschland jeweils drei, in England
anderthalb Millionen. Aber Integration, gar Assimilation ist bisher
nirgendwo durchgreifend geglückt. Der Einwanderungsdruck wird sich im Laufe
des 21. Jahrhunderts erheblich verstärken - besonders aus der Türkei, aus
dem Nahen Osten und aus dem Maghreb. Deshalb haben wir Europäer ein ernstes
Interesse an der Stabilität unserer muslimischen Nachbarstaaten in Asien
und Afrika.
Erster Antrag: 1987
Es sollte diesem Interesse dienen, dass die
damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1963 ein Assoziationsabkommen
mit der Türkei geschlossen hat. Daneben hat die Entwicklungshilfe
europäischer Staaten zugunsten fast aller muslimischen Staaten - und ebenso
die wirtschaftliche Verflechtung - inzwischen gewaltige Fortschritte
gemacht. Zugleich ist aber wegen der dortigen Bevölkerungsexplosion ihr
Wohlstand nur langsam angestiegen. 1963 lebten in der Türkei weniger als 40
Millionen Menschen, im Jahre 2003 werden es knapp 70 Millionen sein; in der
Mitte des 21. Jahrhunderts könnte die Türkei so viele Einwohner haben wie
Frankreich und Deutschland zusammen.
In den siebziger Jahren hat man in Ankara
vergeblich gehofft, dass Millionen mehr Türken in Deutschland leben
könnten. 1987 hat die anhaltende Bevölkerungsvermehrung zu einem türkischen
Antrag auf Vollmitgliedschaft geführt. Inzwischen war aus der früheren EWG
von sechs Mitgliedsländern längst ein politischer Verbund geworden; man
erstrebte eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und bereitete sich
auf die gemeinsame Währung vor. Der Beitrittsantrag wurde damals als
„derzeit nicht zweckmäßig“ abgelehnt. Wohl aber hat es in den neunziger
Jahren und seither im Europäischen Rat mehrere Beschlüsse gegeben, die eine
Beitrittskandidatur in Aussicht stellten, zugleich aber auf den von der EU
schon vor einem Jahrzehnt aufgestellten politischen, ökonomischen und vor
allem verfassungsrechtlichen Bedingungen (den Kopenhagener Kriterien)
beharrten, welche die Türkei bisher nicht erfüllen konnte.
Giscard d’Estaing hat also Recht, der jüngst
sagte, man habe sich gegenüber der Türkei einer zweideutigen Sprache
bedient. Die Mehrheit der EU-Regierungschefs hat sich immer aufs Neue
hinter den von der Türkei tatsächlich nicht erfüllten Kriterien versteckt,
zugleich aber unter massivem Druck der USA immer wieder so getan, als ob
man die Türkei nur allzu gern als Vollmitglied in die EU aufnehmen wolle.
Deutschland und Frankreich waren und bleiben daran durchaus beteiligt.
Es wird Zeit, dass die europäischen Staats- und
Regierungschefs, wenn sie sich am Donnerstag abermals in Kopenhagen der
Türkei zuwenden, sich über ihre strategischen Interessen reinnen Wein
einschenken. Zwar sitzt der amerikanische Hegemon nicht mit am Tisch, aber
vermutlich wird zumindest Tony Blair dessen Interessen vertreten. Für
Washington geht es seit Jahrzehnten um die feste Einbindung der Türkei in
das amerikanische geopolitische Instrumentarium; aktuell geht es darum, die
Türkei zu weitgehender Mitwirkung an einem Irak-Krieg zu bewegen und
langfristig auch um möglichst weitgehende Identität der Mitgliedschaften in
EU und Nato, um die Steuerung beider Verbände durch Washington wesentlich
zu vereinfachen.
Umringt von Rivalen
Dabei bleibt die vorhersehbare eigene
strategische Dynamik der Türkei außer Acht; diese betrifft keineswegs
allein den Irak oder allein den israelisch-palästinensischen Konflikt,
sondern ebenso jene Republiken Zentralasiens, die türkische Dialekte
sprechen. Schon vor Jahrzehnten sprach Staatspräsident Süleyman Demirel von
einer „türkischen Welt“, „von der Adria bis an die Grenzen Chinas“.
Die Türkei hat nicht nur kurze gemeinsame Grenzen
mit Griechenland und Bulgarien, sondern auch längere Grenzen mit dem Irak,
mit Syrien, dem Iran, Georgien und Armenien. Außerdem ist die Türkei,
gemeinsam mit dem Irak, belastet mit dem Problem des unterdrückten
20-Millionen-Volkes der Kurden, denen die Siegermächte des Ersten
Weltkrieges kein eigenes Territorium zugestanden hatten; jede
Destabilisierung des Irak wird den Nationalismus der in der Türkei lebenden
Hälfte des kurdischen Volkes abermals anstacheln.
Die sich durch die Jahrhunderte hinziehende
Gegnerschaft Russlands (deshalb seinerzeit der Beitritt der Türkei zur
Nato), die verständliche Feindschaft der Armenier oder die zu erwartenden
strategischen Auseinandersetzungen über Rohrleitungen und Häfen für Öl und
Gas aus Zentralasien komplettieren die Umrisse der geopolitischen
Interessen Ankaras. Wer diese Interessen in den Rahmen einer „gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik“ der EU einfügen wollte, der könnte in einer
Krise den Zusammenbruch der EU riskieren. Für einen vollen EU-Beitritt der
Türkei sind eine Reihe kultureller Unterschiede von Bedeutung. Die Türkei
ist, dank der Reformen durch den General Kemal Atatürk nach dem Ersten
Weltkrieg, ein laizistischer Staat: Der Feudalismus ist abgeschafft; anders
als im Iran gibt es eine klare Trennung zwischen Staat und Geistlichkeit;
anders als im Irak und in Syrien gibt es eine funktionierende
demokratisch-parlamentarische Verfassung. Jedoch liegt verfassungsrechtlich
die entscheidende Macht beim Militär, im türkischen Sicherheitsrat, in dem
nichts gegen die Generalität entschieden werden kann. Die militärischen
Spitzen wachen über die kemalistischen Reformen, sie stehen gegen die
schleichende Re-Islamisierung der Gesellschaft und des öffentlichen Lebens.
Die oberste Regierungsfunktion der Militärs verschafft laizistischen Türken
eine gewisse Sicherheit, ironischerweise beschränkt sie aber entscheidend
die Demokratie und verstößt so gegen die Kriterien der EU.
Washington setzt auf die Standfestigkeit des
Militärs. Umgekehrt hofft die Top